Wie weh tut ein Bit? Sozialbilanzen des Digitalen

In einer Sozialbilanz werden die Belastungen abgeschätzt, die ein Produkt in seinem gesamten Herstellungsprozess für die Arbeiter und angrenzende Bevölkerung, aber auch dessen Nutzer bedeuten, ähnlich wie der CO2-Ausstoß in Ökobilanzen. Wir haben eine solche Analyse mal am Beispiel des Abbaus der metallischen Rohstoffe in der Computermaus von Nager IT ansatzweise ausprobiert, mit interessanten Ergebnissen. Den Gedanken weitergeführt wünsche ich mir ein Portal Sozialbilanz Elektronik zur einfachen Berechnung der Fairness eines Elektronikgeräts. Insbesondere vergleichend zwischen zwei Design- oder Einkaufalternativen wäre das eine starke Hilfe für Produzenten oder Konsumenten. Ein Plädoyer.

Ist Coffee-to-go umweltschädlicher als Filterkaffee aus der Keramiktasse? Unter typischen Umständen ja, allerdings ist der Unterschied vernachlässigbar gegenüber der Wahl des Kaffees selbst, also wo er herkommt und wie er dort angebaut, geerntet und weiterverarbeitet wird. Zu solchen auf dem ersten Blick überraschenden, für ein umweltbewusstes Handeln aber entscheidenden Ergebnissen kommen immer wieder mal Ökobilanzen, also Produkt-Lebenszyklus-Umweltschutz-Analysen. Sie betrachten den ganzen Lebenszyklus eines Produkts (oder auch einer Dienstleistung) betrachtet wird, von der Wiege (meist Rohstoffextraktion) bis zur Bahre (meist Entsorgung oder Recycling).

Fast die Hälfte der Modulfläche der Fairphone-Kamera wird für die Kontakte zu den anderen Modulen benötigt

Ökobilanzen gibt es auch für Elektronik- und IT-Produkte. Ein bekanntes Beispiel: Das Fairphone 2 hat einen modularen Aufbau mit der Möglichkeit, eigenständig defekte oder veraltete Teile des Geräts zu ersetzen, z.B. die Kamera. Ein echtes Umweltplus, für das Fairphone mehrere Preise bekam. Erst eine Ökobilanz entdeckte: Die deshalb vorhandenen Steckverbindungen benötigen zusätzliches Material und enthalten insbesondere Gold, dessen Abbau sich negativ auf die Bilanz auswirkt. Das rechnet sich erst wenn das Gerät lange in Gebrauch ist, weil es dann tatsächlich auch mal repariert werden wird oder man gar nur das Kameramodul austauscht statt ein ganz neues Gerät zu kaufen.

Unser Thema ist die Sozialverträglichkeit, die Fairness der Elektronikproduktion. Uns interessieren also Sozialbilanzen, sozusagen Produkt-Lebenszyklus-Fairness-Analysen. So wie Ökobilanzen überraschende Einsichten bieten, so erwarte ich es auch von Sozialbilanzen. Nun, zunächst einmal erwarte ich, dass es solche Analysen überhaupt gibt. Leider gibt es sie aber kaum. Für das Fairphone zumindest nicht.

Es gibt immerhin wenige Sozialbilanzen für IT-Produkte, die frei erhältlich und nicht in unfreien Publikationen der wissenschaftlichen Diskussion gefangen sind, zum Beispiel:

In allen Studien wird erwähnt, dass die Datenbasis noch dünn ist. Es gibt zwar zwei Datenbanken mit Hintergrundbewertungen (PSILCA und SHDB), wichtig sind aber produkt- und firmenspezifische Daten, die meist geheim gehalten werden, so dass solche Studien nur in enger Zusammenarbeit mit dem Hersteller und seinen Zulieferern möglich sind.

Wir von FairLötet haben mal ausprobiert, zu welchen Erkenntnisse man kommt, wenn man eine (sicherlich wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügende) Sozialbilanz auf Basis verallgemeineter Daten unternimmt. Dazu haben wir uns beispielhaft die Bestandteile der Computermaus von Nager IT genauer angeschaut und eine Fairness-Abschätzung allein der in ihren Bauteilen steckenden Rohstoffe versucht. Datengrundlage waren:

Die Einschätzung einger Länder aus dem Tracy-Projekt
  • das öffentlich verfügbare Schaltbild der Maus in der Version vor Oktober 2017
  • die Zusammensetzung ihrer elektronischen Komponenten auf Basis der LCA-Datenbank ecoinvent in einer älteren Version – Gehäuse, Verpackung, etc. wurden nicht betrachtet
  • die Erzminenproduktion der fünfzig wichtigsten Herkunftsländer der acht metallischen Rohstoffe Aluminium, Eisen, Gold, Kupfer, Nickel, Palladium, Silber und Zinn auf Basis der Daten der Geologischen Behörde der USA
  • eine Einschätzung der benötigten Arbeitszeit für den Abbau von Erzen auf Basis einer Untersuchung des Öko-Instituts zu Koltan im Südosten der D.R. Kongo – die Verhüttung der Erze, die Fertigung der Halbzeuge und der elektronischen Komponenten oder der Zusammenbau und Vertrieb der Maus wurden nicht betrachtet, ebenso nicht ihr Gebrauch und ihre Entsorgung, mit „gesamte Lebenszyklus“ hat es also nicht viel zu tun
  • die Einschätzung der sozialen Belastungen Kinderarbeit, Gleichberechtigung, Faire Gehälter, Zwangsarbeit, Versammlungsfreiheit, Gesundheit/Sicherheit am Arbeitsplatz, Soziale Absicherung und Arbeitszeiten in den einzelnen Ländern. Genutzt wurde dazu die Datenerhebung des befreundeten Projekts Tracy des Karlsruher Instituts für Technologie
Kongo ist der Hotspot, nicht nur bei der Zwangsarbeit

Das Ergebnis kann man in 4 Ks zusammenfassen:

  • In der Demokratischen Republik Kongo treten am wahrscheinlichsten Menschen- und Arbeitsrechtsverletzungen auf, was die vielen Berichte und den politischen Fokus auf diese Region bestätigt.
  • Die wahrscheinlichste Belastung in allen Regionen zusammen ist die Knechtschaft, also Zwangsarbeit z.B. in Form des Gefangenseins durch Abarbeiten von Rekrutierungsschulden.
  • Die häufigsten Rechtsverletzungen treten beim Abbau des Kupfers auf, alleine weil Kupfer mit Abstand das häufigste Metall in der Maus ist.
  • Die potenziell unfairste Komponente ist wegen des Kupfers das USB-Kabel.
Die Lieferkette der Maus von Nager IT, deren unteren roten Bereich wir etwas genauer analysiert haben

Das gilt wohlgemerkt speziell für die Nager-IT-Maus und nur für deren Metallerzextraktion. Die hohe Dominanz des Kupfers und in Folge des USB-Kabels hätte ich so nicht erwartet. Die Maus wäre im Rahmen dieser Untersuchung also am naheliegendsten noch fairer, wenn sie ein kürzeres Kabel hätte oder sein Kupfer nachweislich aus einer fairen Quelle käme. Derzeit ist die Herkunft aber unbekannt.

Was man bedenken sollte: Unsere Analyse folgte nur dem Ansatz, einen Fußabdruck zu berechnen der entstehenden Belastungen in den Abbauregionen. Wichtig ist aber auch der Handabdruck der ökonomischen Stärkung, also die Chancen, die z.B. durch den Abbau von Kupfererz im Kongo bestehen.

FairLötet hat mit dieser Studie das Projekt Portal Sozialbilanz Elektronik (kurz PSE) gestartet. Die Idee ist, dass man als Hersteller auch ohne Detailinformationen auf Basis eines Schaltbilds oder der Stückliste seines Elektronikgerätes errechnen kann, wo denn bei der Fairness wahrscheinlich der Schuh drückt, wo man also aktiv werden sollte, wenn man als Produzent darauf achten möchte. Wenn man mehr Details über die Zusammensetzung des Geräts hat, soll man sie eingeben können. Die Ergebnisse werden dann genauer. Komponentenhersteller würden motiviert, Zulieferinformationen über ihr Produktportfolio in die PSE-Datenbasis zu übertragen, wenn sie besser als der Durchschnitt sind. Sie würden dann für Geräteentwickler als bessere Alternative für eine Stückliste vom Portal automatisch vorgeschlagen.

Fazit: Es wird viel über Fairness in der IT geschrieben und geredet. Verantwortungsvolle Produzenten möchten wissen, was man tun kann. Was fairer ist als das andere bleibt aber den meisten schleierhaft. Meiner Meinung nach bedarf es daher bei der Fairnessbeurteilung einer detaillierten, begründeten Berechnung mittels Sozialbilanzen, am besten vergleichend zwischen Alternativen. Nur sie können den Dunst aufklären. Und einige Überraschungen ins Licht rücken.

Demokratische Republik Kongo, Fairphone, Kabel, Kupfer, Nager-IT, Sozialbilanz, Zwangsarbeit

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