Ende April hatten wir unsere jährliche FairLötet-Strategietagung, bei der wir Rückblick hielten und die Schwerpunkte unserer Arbeit justierten. Eine Diskussion, die eher nebenbei lief, ich dann aber als sehr konstruktiv empfand, entstand aufgrund der berechtigten Frage: Was empfinden wir als „fair“? Wir reden viel über Fairness, aber was meinen wir überhaupt damit? Hier schreibe ich, was mir von der Diskussion im Kopf geblieben ist und was ich mir hinzugedacht habe.
Drei Wege zur Fairness
Der übliche Weg Fairness zu definieren ist es, einen Standard festzulegen und zu sagen: Fair ist es, wenn er eingehalten wird, ansonsten ist es unfair. Das typische Beispiel sind die ILO-Kernarbeitsnormen, deren Anforderungen gering sind (von Löhnen ist dort z.B. nicht die Rede), die damit aber politisch realistisch und deshalb oft als Minimum verstanden werden. In Ausschreibungen öffentlicher Beschaffung werden sie oft gefordert nach dem Motto: diese Fairness wollen wir mindestens haben! Und wenn sie nicht eingehalten wird, kaufen wir auch nicht. Eine der ILO-Kernarbeitsnormen ist die Versammlungsfreiheit. Sie ist in China praktisch nicht gegeben, da es nur staatliche Gewerkschaften gibt. Die Elektronikindustrie hat sich von China aber komplett abhängig gemacht. Also gibt es nach dieser Definition keine faire Elektronik. Punkt. Wenn man trotzdem Elektronik kaufen will kauft man dann halt irgendetwas, ist eh alles nicht fair.
Ein zweiter Weg ist es, unter dem gegebenen Angebot das Fairste auszusuchen. Das ist der Weg, den Nager-IT geht: Die Lieferkette der Maus ist bestens dokumentiert, und man kann genau beobachten wie über die Zeit Bauteil für Bauteil versucht wurde, eine möglichst faire Bezugsquelle zu finden. „Fair“ ist hier definiert nach graduellen Kriterien, die an die ILO-Kernarbeitsnormen angelehnt sind. Das Motto ist: Wir kaufen das Fairste was wir bekommen können und vermeiden damit das Unfairere. Man kann es den less bad-Ansatz nennen, eine Wortschöpfung die ich im Rahmen der 2016er-Jahrestagung des Öko-Instituts kennengelernt habe und im STRADE-Projekt Eingang fand. Das führt letztlich dazu, dass in der Maus bevorzugt Hersteller aus der EU vertreten sind. Ein Beziehen aus China verbleibt als „geht leider nicht besser“ in der Lieferkette und wird rot markiert. Das führt allerdings auch zu einer Art Embargo-Effekt, da dadurch sich noch entwickelnde Länder systematisch ausgeschlossen werden, wenn es was faireres gibt aus schon entwickelten Ländern.
Der dritte Weg dagegen folgt einem more good-Ansatz. Man kauft gezielt dort wo es eher unfair ist und versucht durch geeignete Maßnahmen die Lage dort (und sei es nur ein klein wenig) zu verbessern, also fairer zu machen als es vorher war bzw. ansonsten wäre. Das ist der Weg, den Fairphone geht: Sie beziehen absichtlich aus China (wofür sie auch kritisiert wurden), installierten dort aber den Worker Welfare Fund, der nach einem Beteiligungs- und Wahlprozess jeder Arbeiter*in letztlich einen zusätzlichen Lohn ermöglichte. Das Motto ist: Wir gehen dahin wo es weh tut und initiieren Entwicklung zu mehr Fairness. Versammlungsfreiheit und kollektive Tariffindung besteht bei dem chinesischen Lieferanten aber ebenfalls nicht grundsätzlich, genauso wie z.B. der Bezug von konfliktfreiem Zinn aus dem Ostkongo die Diskriminierung von Frauen und Kinderarbeit nicht verhindern kann, also mit Fug und Recht als unfair bezeichnet werden kann. Aber immerhin „konfliktfrei“, also frei von extralegaler Finanzierung der Bürgerkriegsparteien dort.
Unser Leitmotiv
Zurück zu unserer Diskussion während der Strategietagung. Nach Identifizierung der verschiedenen Wege zur Fairness kamen wir zu dem Ergebnis, dass wir in erster Linie ein more good anstreben und unterstützen wollen in unserer Arbeit. Uns liegt Entwicklungszusammenarbeit und Wohlstandstransfer am Herzen. Aber more good ist sehr schwierig und aufwändig. Es gibt nur wenige Projekte, die diesen Weg gehen, und selbst aktiv werden ist für die meisten keine Option.
Wenn man kein more good schafft, sollte man less bad anstreben, sich aber bewusst sein, dass dies eine deutlich indirektere Wirkung hat. Man sollte sich in diesem Fall klar gemacht haben: Mit welcher Begründung wird das Vermeiden des Unfairen die Welt verbessern?
Und was bleibt, wenn man keine Chance sieht, etwas Faires zu bewegen oder überhaupt nur Faireres zu beschaffen? Wo auch ein less bad schwierig wird, ergänze ich hier persönlich für mich, ist none at all angesagt: Wiederverwendung, Recycling, Reduktion, Suffizienz. Manche mögen das aus guten Umweltgründen ganz an den Anfang stellen. Aus Sozialerwägungen ist es das meines Erachtens aber nicht. Unser Angebot mit dem Lötdraht HS10Fair auf Sekundärzinnbasis ist ein solches none at all-Angebot, immerhin, nicht selbstverständlich, aber mehr auch nicht.
Das Starren auf den Fußabdruck
Es ist schade, dass in der öffentlichen Diskussion meist ein less bad-Motiv vorherrscht, die Betrachtung des „Fußabdrucks“ den man als Produkthersteller oder als Käufer des Produkts hinterlässt: Steckt Kinderarbeit in meinem Handy? Gibt es zu viele Überstunden? Verdienen die Arbeiter nur einen Hungerlohn? Wenn man keine Kinderarbeit möchte, kauft man also besser dort, wo Kinderarbeit abgeschafft ist? Ich zweifele. Klar: Niemand möchte Kinderarbeit. Kinderarbeit ist aber ein Symptom. Die Ursache für Kinderarbeit, die Armut der Eltern, behebt es nicht, wenn man Kinderarbeit einfach meidet und vor der Armut flieht. Im Zweifelsfall verstärkt es noch die Armut.
Studien zu Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen beim Rohstoffabbau in diesen und jenen Gebieten sind meistens auf die gleiche Weise aufgebaut:
- die Situation vor Ort wird geschildert mit Aufzählung der beobachteten menschenrechtlichen Belastungen und Arbeitsrechtverletzungen
- an die Verpflichtungen der Akteure wird erinnert und aufgezeigt, dass die Unternehmen und die Politik dieser Sorgfalt nicht nachkommen
- Forderungen werden gestellt, um die Belastungen und Verletzungen abzustellen und den Verpflichtungen nachzukommen
Die Bedeutung dieser evidenzbasierten, investigativ aufdeckenden Berichte ist kaum zu überschätzen, es geht den Autoren aber meist nur darum, negative Auswirkungen des Agierens abzustellen…
Den Handabdruck erkunden
… ohne Reflexion darüber, warum die Arbeiter*innen den Job trotzdem machen. Sie machen ihn, um voranzukommen im Leben, für ein besseres Leben. Ich will nicht den Missbrauch und die Ausbeutung von Arbeiter*innen gutheißen, es ist aber halt abzuwägen mit den Chancen, die in der Arbeit bestehen. Und die werden leider selten thematisiert.
Die klassische Fairness-Denke ist Risiko-orientiert. Wenn aber alle Risiken beseitigt sind, wird es keine Chancen mehr geben.
Diese Chancen sind zudem in sich entwickelnden Ländern größer. Die unten dargestellte Preston-Kurve zeigt den Zusammenhang zwischen Bruttoinlandsprodukt (nach rechts) und Lebenserwartung (nach oben). Sicher muss man aufpassen und darf nicht Korrelationen und Kausalität vermischen und sicher ist weder das Bruttosozialprodukt ein guter Indikator für wirtschaftliche Aktivität noch die Lebenserwartung für ein gutes Leben.
Die Kurve bestätigt mich aber in unserer Einschätzung: Mehr more good und weniger less bad täte der Fairnessszene gut. Die langjährige Praxis mit einer vermeindlichen Signalwirkung, die von einem less bad-schen „Ich kaufe nicht bei Euch wenn da Kinderarbeit drin steckt“ ausgeht, führt meines Erachtens nicht zum großen Erfolg. Es gilt etwas zu verändern, nicht nur zu vermeiden.